Delegationsreise Griechenland [Teil 5]

Auf der Insel Lesbos (I) – Staatliche Stellen und die Rolle der “Freiwilligen”

>>> Die Menge an Eindrücken, die wir von der Insel mitnehmen ist kaum in einem kürzeren Text fassbar. Darum haben wir uns entschieden, zwei separate Artikel zu veröffentlichen, die aber aufeinander aufbauen. <<<

IMG_2396_a.cleanedAm Morgen des 3.1. erreichten wir Mytilini, die Hauptstadt der Insel Lesbos. Bereits am Hafen trafen wir auf bewaffnete Hafenpolizist*innen („CoastGuard“), die die große Menge an Menschen überwachten, die in Richtung Athen aufbrechen wollten. Im Vergleich zum Sommer letzten Jahres ist die Polizeipräsenz derzeit jedoch deutlich geringer. Die griechische Regierung hatte im Juni 2015 die Einsatzkräfte auf Lesbos um ein Vielfaches erhöht. Genoss*innen und Aktive berichten von einer bis dahin ungekannten Anzahl an Cops und chaotischen Zuständen.

Während sich deren Anwesenheit nun wieder auf ein “normales” Level einzupegeln scheint, soll der Umfang des Frontex Einsatzes auf der Insel in diesem Jahr massiv erhöht werden. Im Rahmen einer neuen Operation will die Grenzschutzagentur nach eigenen Angaben im Laufe des Jahres die eigene Präsenz auf der Insel mit über 300 zusätzlichen Offizieren plus Schiffen und Technik stärken [1].

Das Ausmaß an flächendeckender Überwachung der Küstengebiete vor Lesbos und die kontrollierte Konzentrierung der Menschen auf der Insel, die in diesem Operationsplan von Frontex angekündigt werden, ist bereits jetzt im Registrierungscamp in Moria sichtbar. Dieses offizielle Camp der griechischen Behörden ist einer der Orte, über die wir hier berichten möchten. Außerdem besuchten wir selbstorganisierte Projekte wie das NoBorder Camp und die SocialKitchen und erhielten Berichte über ein Camp in Platanos und Klio. Auch den offenen Widerspruch zwischen Charity und politischer Solidarität thematisieren wir in diesem Text nocheinmal detailierter. Es hat sich uns mit aller Deutlichkeit gezeigt, welche politische Tragweite “Volunteer-Arbeit” mit sich bringt. Auch “reine Hilfe” ist nicht unpolitisch, auch wenn sie sich als unpolitisch gibt. Die vielen Eindrücke der Insel möchten wir im Folgenden darstellen.

Der Umschlagplatz Mytilini

Auch wenn die Zahl der auf der Insel ankommenden Menschen in den letzten Wochen, u.a. aufgrund der Wetterverhältnisse, abgenommen hat, erreichen meist noch mehrere Boote pro Tag die Insel. Wie uns berichtet wurde, braucht es in der Regel 3 bis 5 Stunden für die Überfahrt von der türkischen Küste auf die ca. 15 km entfernte Insel. Die Preise für einen Platz in einem der Boote schwanken wohl zwischen 800 und 1500, vereinzelt wurde uns auch von Preisen von bis zu 5000 Euro berichtet. Wer das Boot steuert, so erzählten Geflüchtete, wird meist spontan vor der Abreise entschieden. Oft sind es Menschen, die nicht genügend Geld für die Überfahrt haben und deswegen diese Aufgabe übernehmen müssen, unabhängig davon, ob sie Erfahrungen damit haben oder nicht. Selbstverständlich erhöht das die Gefahr bei der Überfahrt massiv. Sowohl NGOs, UNHCR, Frontex, Coast Guard, Feuerwehr als auch Privatmenschen und selbstorganisierte Strukturen beobachten die Küste dauerhaft. Zum Austausch einiger untereinander gibt eine selbstorganisierte “WhatsApp-Gruppe”. Hier werden die GPS Daten der landenden Boote via WhatsApp an die anderen Beobachter*innen geschickt, damit Menschen in der Nähe schnellstmöglich Hilfe leisten können. Erreichen Boote die Küste oder werden bereits auf See abgefangen sind es in der Regel Busse der UNHCR, die die Menschen in das größte Camp der Insel nach Moria bringen. Mitunter werden die Leute durch eines der zahlreichen kleineren Camps gelotst, mit Essen und Kleidung versorgt und begeben sich danach oft auf den Weg zum Registrierungscamp.

Die gestrandeten Boote, so erfahren wir später von Geflüchteten, werden meist vermutlich durch Coast Guard oder Polizei unbrauchbar gemacht. Die Motoren der Schlauchboote finden sich haufenweise auf dem Hafengelände in Mytilini wieder. Was dann genau mit ihnen passiert ist nicht ganz klar. Wir vermuten, dass hier eine von zahlreichen Profitquellen entstanden ist. Die hohe Zahl an Geflüchteten, die sich meist auf der Durchreise nach Zentraleuropa befinden, hinterlassen deutliche Spuren in der Infrastruktur der Insel-Hauptstadt. Seitdem im Sommer letzten Jahres die Situation auf der Insel völlig untragbar geworden war und sich tausende Menschen ohne jegliche Versorgung und Unterbringung auf den Straßen Mytilinis aufhielten, so berichten es Genoss*innen auf einer Diskussionsveranstalung in Thessaloniki, werden Refugees sowohl durch den Staat als auch von der Bevölkerung zunehmend als potenzielle Geldquelle wahrgenommen. Tasia Christodoulopoulou, die griechische Immigrationsministerin, sagte während des Syriza-Wahlkampfs im September: „Die meisten Syrer haben Geld, und der griechische Geist ist unsterblich im Erfinden immer neuer Wege, Geld zu verdienen […] Die Flüchtlinge bringen den griechischen Inseln Geld, viel Geld.“ Fliegende Händler*innen bieten Essen und Schlafsäcke an, große Mobilfunkanbieter wie Vodafone oder Lycamobile verkaufen SIM Karten direkt vor den Kiosken am Hafen – alle Angebote und Preise sind auf mehrere Sprachen übersetzt.

Staatliches Registrierungscamp in Moria

Offiziell der erster Anlaufpunkt für Refugees ist das ca. 10 km nördlich von Mytilini gelegene Camp in Moria, indem auch die UNHCR präsent ist. Was wir bei unserem Besuch hier erleben, ist Inbegriff dessen, welche Ungleichheiten zwischen “Fliehenden” und “Helfenden” oder “geduldeten” und “unerwünschten” Nationalitäten bestehen. So erreichen und verlassen zwischen “Volunteer-Welcoming Station” [2] und Registrierungsschlange täglich dutzende Menschen das Lager. Gemeinsam mit der direkt vor Ort stationierten Cops, oft die MAT Aufstandsbekämpfungseinheiten und Berichten zufolge auch mit Unterstützung von Frontex-Offizieren, ist das Camp fester Bestandteil des griechisch-europäischen Grenzregimes. Registrierung, Versorgung, Abschiebungen und Absatzmarkt laufen in Moria an einem Ort zusammen.

Der staatliche Verwaltungsapparat befindet sich im Zentrum des Camps. Die UNHCR umringt diesen Kern des Camps, scheint aber auch im Inneren zu wirken. Im Laufe der Zeit bildete sich dann ein äußerer Ring von NGOs, mit eigenen Zelten und weiteren “Zeltstädten”, die aus hunderten kleiner Campingzelte bestehen und meist durch Geflüchtete aufgebaut wurden. Diese reichen weit in das umliegende Gelände aus. Die NGOs übernehmen eher eine infrastrukturelle Funktion und haben dabei einen festen Ort (siehe Karte). Die Campingzelte sind oft von minderer Qualität und halten Starkregen nicht stand. Sie kosten zwischen 25 und 30 Euro und werden von Inselbewohner*innen an den Straßenrändern zum Verkauf angeboten. Das Gelände ist ein angepachteter Olivenhain. Der erste Ring läuft einem terrassierten Hügel auf eine Plateau hinauf. Der mittlere und innere Kreis befindet sich teilweise auf diesem Plateau und fällt dann wieder sehr steil ab. Direkt am Hang gelegen, war der Boden bei unserem Besuch durch den andauernden Regen bereits stark aufgeschwemmt. Ein trittsicheres Bewegen war auf dem Gelände kaum möglich, die Schuhe und Kleidung innerhalb weniger Schritte total verschmutzt und durchnässt. An vielen Stellen stapelt sich Müll.

Unterbringung und Verpflegung

Die Unterbringung erfolgt wie oben beschrieben sowohl in Campingzelten als auch in wenigen (etwa 20 bis 30 Stück) größeren Zelten der NGOs. Diese sollen zwar wetterfest sein, sind dies jedoch, nach eigenen Erfahrungen nicht. Außerdem werden vor allem für Familien, Wohncountainer der UNHCR zur Verfügung gestellt. Die schätzungsweise 12 qm großen Blechkästen werden in “Volunteerstrukturen” euphemistisch als “large shelters” bezeichnet. In Anbetracht dessen, dass sie von staatlichen und UN-Gelder finanzierte Unterbringungen sind und den größten Komfort im Camp bieten sollen, sind die Blechkästen eine Farce. NGOs stellen darüber hinaus noch mindestens ein Zelt als Gebetsraum zur Verfügung. Verpflegung gibt es kostenlos in mehreren Zelten. Parallel dazu entstanden jedoch auch “food courts” (mehrere Essensstände nebeneinander) nach Festival-Optik, die Verpflegung zu regulären Inselpreisen anbieten. Am Wegrand hinauf zur Registrierung befinden sich zusätzlich Kaffee– und Getränkeautomaten.

Die verschiedenen Bereiche werden durch Zäune (fast ausschließlich mit Stacheldraht versehen), voneinander abgetrennt und geben klar vor, welche Bereiche von wem betreten werden dürfen. Die oben erwähnte Dreiteilung des Camps wird so durch die Vergabe von Bewegungs– und Aufenhaltsrechten für bestimmte Bereiche umgesetzt: der Lagerkosmos mit all seinen Hierarchien und Widersprüchen tritt an dieser Stelle in der Realität hervor und entfaltet sich in der Landschaft.

Registrierung und Selektion
Sobald die Geflüchteten aus den UNHCR-Bussen aussteigen, bekommen sie eine Nummer in Form eines kleinen Papierzettels zugewiesen. Teilweise gab es auch rote Armbänder mit Nummern. Bei unserem Besuch wurden etwa 1000 Menschen registriert und weitere 1000 warteten noch darauf. Die zentralen Registrierungsstellen arbeiten offiziell nach der Unterscheidung nach Sprache – “Arabisch” und “Nicht-Arabisch”. Das würde, so einige der Freiwillige vor Ort, die Registrierung aus sprachlichen Gründen erleichtern. Soweit verständlich, jedoch gab es selbst bei den Freiwilligen dazu widersprüchliche Aussagen. Es ist nicht gesichert, dass dies das tatsächliche Prozedere darstellt. Die Gespräche mit Geflüchteten lassen dann endgültig Zweifel an dieser Aussage entstehen. Es häufen sich Aussagen in denen Menschen von Willkürlichkeit, Filterung und Ausschluss bestimmter Nationalitäten [3] berichten. Die Cops handeln dabei je nach Tagessituation und Laune. Die Entscheidungsprozesse sind höchst intransparent, die Informationslage ist sehr schlecht, alles wirkt sehr chaotisch. Die fehlende Transparenz erhöht das Potenzial von polizeilicher und staatlicher Willkür enorm. Wir können nur vermuten was mit den Daten, wie zum Beispiel den abgegebenen Fingerabdrücken, geschieht. Vermutlich werden sie unmittelbar in Europäische Datenbanken wie EURODAC oder SIS II aufgenommen [4].

Vor allem die Lage an den Grenzen verursacht große Unsicherheiten. Ob in Zukunft überhaupt noch Geflüchtete über die griechische Grenze in Richtung Norden gelassen werden und welche Nationalitäten dies sein werden ist nicht sicher. Bereits jetzt gibt es viele Gerüchte, dass eine komplette Grenzschließung bevorsteht. Die Verhaftungswellen gegen Illegalisierte und/oder ungewollte Migrant*innen und Geflüchtete durch die griechische Polizei und deren Internierung in diversen Lagern und Polizeistationen, können Indizien für die Tendenz Richtung Grenzschließung sein. Die ständigen Schwankungen im Regelwerk des Europäischen Grenzregimes haben viel Glaubwürdigkeit der rechtlichen Grundlagen verschwinden lassen. Vor allem für Menschen mit “nicht gewollten” Nationalitäten kann das unmittelbare Auswirkungen haben. In den letzten Wochen und Tagen kam es nicht nur in Moria immer wieder zu Verhaftungen und Abschiebungen. Jüngst traf es viele Marokkaner*innen die im Korinthos Refugee-Gefangenenlager (westlich von Athen) gegen die unmenschlichen Bedingungen revoltiert haben. (Wir waren vor Ort, haben Kontakt in das Lager und diverses Foto- und Videomaterial und werden noch davon berichten).

“Voluntourismus”

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Wir wollen in diesem Absatz auf ein Phänomen eingehen, dass wir als “Volunterismus” bezeichnen würden. Das reine “Helfen” in einer seiner negativsten Formen, da die staatliche Repression gegen das Recht auf globale Bewegungsfreiheit über den Umweg der kooperierenden NGOs, nur noch in subtiler Art und Weise in Erscheinung tritt. Auf Lesbos ist uns dies besonders aufgefallen und bewusst geworden.

Ähnlich wie die vielfachen Verkaufsstände, die sich auf die Ankunft Geflüchteten fokussieren, bestimmen dutzende von neonfarbenen Warnwesten das Stadtbild rund um den Hafen. Es wimmelt nur so von “Volunteers”. Sie verteilen Essen, geben Decken aus und schicken Menschen von A nach B . Besonders in Moria nehmen die “Volunteers” eine tragende Rolle in den offiziellen Abläufen staatlicher Koordnierung und Selektierung ein. In ihren Arbeitsablauf hat diese Registrierung der Menschen höchste Priorität. Eine Helferin aus den USA sagte uns: “Ich würde auch lieber Essenfür die Refugees kochen, aber nun mache ich leider das hier.” Das Registrierungs-Camp in Moria dient auch als Ausgangspunkt für großangelegte Verhaftungen und Deportationen nach Athen. Dies traf vor allem Menschen aus dem Maghreb. Die Polizei benutzt dabei die NGOs und Volounteers zur Ausübung für etwas, das wir als softe Repression bezeichnen würden. Was meinen wir damit? Wenn die Polizei und der Staat es sich nicht leisten können bestimmte Refugees mittels Tränengas und Gummiknüppeln zu separieren und zu verhaften, dann benutzt er NGOs und “Volunteers” um die Selektion der Menschen zu erreichen. Oft wissen die nicht-staatlichen Strukturen, wo sich Menschen aus dem Maghreb befinden, da sie ihnen Essen und Kleidung zur Verfügung stellen. Die oben erwähnte Freiwillige aus den USA berichtete uns davon, während sie Leute in eine Warteschlange zur Registrierung einsortierte. Vor wenigen Wochen hätte die Polizei mit den Freiwilligen und NGOs geredet. Laut ihren Aussagen habe die Polizei gesagt, dass nun “die Tunesier und Marokkaner an der Reihe sind” (gemeint ist die Registrierung). Darauf hin wurden diese Menschen zur Registrierungsschlange gebracht. Doch anders als erwartet wurden sie nicht registriert um weiter reisen zu können. Sie wurden an Ort und Stelle von der Polizei umstellt und verhaftet. Die Information über die Geschehnisse machte schnell die Runde und so flüchteten viele der Verfolgten in das No-Border-Camp und andere Strukturen bzw. kamen in irgendeiner Form, sicher mehr schlecht als recht, auf den Straßen unter.

Als Teil der NGOs, die wiederrum, wie bereits mehrfach beschrieben, in direkter Verbindung mit den europäischen Abschottungsmechanismen stehen, werden die “Volunteers” so (sicher auch unbewusst) zu einem wichtigen Instrument der gängigen Asylpraxis und leisten damit Hilfe bei der Selektierung und Entmenschlichung von flüchtenden Personen. Diese Einordnung muss viel mehr, als bisher der Fall, offen thematisiert werden. Denn aus der oft gut gemeinten Motivation heraus, Geflüchteten Unterstützung entgegenzubringen, resultiert im Nachgang das genaue Gegenteil. Wenn der “Wille zur Hilfe” damit einher geht, staatlichen Behörden bei der Registrierung, Überwachung und Sortierung zu unterstützen, kann von Solidarität keine Rede mehr sein. Das “White-Savior-Syndrom” (Weise-Erlöser*innen-Syndrom) [5] greift hier vollkommen und wird durch das Hilfsgebären der “Volunteers” lediglich oberflächlich verdeckt. Dies versperrt den selbstkritischen Blick auf die eigene oft unbewusst-rassistische, weil verinnerlichte, und repressive (unterdrückerische) Praxis. Um bei unserem Beispiel zu bleiben: In der Tat waren wir von der Unfähigkeit der Helferin erschrocken, ihre eigenen Handlungen zu reflektieren. Der gesetzte Rahmen machte einen Reflektionsprozess schlicht unmöglich. Trotz ihrer Berichte, war sie immer noch davon überzeugt, dass sie die Lage vor Ort verbessern würde. Sie fragte uns, ob wir von den “Freedom of Movement Leuten” seien. Wir wissen zwar nicht wer “DIE Freedom of Movement Leute” genau sein sollen [6], aber wir bejahten ihre Frage. Sie meinte schlicht “Cool, finde ich gut.” Dass sie hieraus eine andere Praxis ableiten würde, war nicht zu erkennen.

Wir trafen in Moria auf “Volunteers”, die aus Texas (christliche Missionare), China und ganz Europa angereist waren um einen Teil “ihrer Freizeit und Geld” zum “Helfen” zu “opfern” (die Anführungszeichen beschreiben Selbstbilder der Helfer*innen, wie sie auch von der Presse transportiert werden). Über den politischen Kontext, in den ein solches Camp eingebettet ist, herrschte in unseren Gesprächen kaum Bewusstsein vor. Dass diese Camps gleichzeitig als Orte für erleichterte Abschiebungen dienen und es immer wieder zu massiver Polizeigewalt kommt, wird unter dem Deckmantel der “Elendsbekämpfung” hingenommen. Die Arbeit, die die Helfer*innen hier leisten ist reine Charity und damit höchst problematisch. Sie wäscht vor allem das eigene Gewissen rein und scheint zu entlasten, zumindest “irgendetwas” getan zu haben. Dann ist es einfacher ein paar freie Tage zu opfern um Essen zu verteilen, Menschen in einer Registrierungsschlange zu verwalten und nach getaner Arbeit wieder zurück in die heile Welt zu kehren. So bleibt das “Elend” weit weg und die eigenen Handlungen und die alltägliche Umwelt kein Teil eines globalen Unterdrückungs- und Herrschaftssystems. Der kurzfristige Blick aus dem IKEA-möblierten Jugendzimmer, schafft in der eigenen Wahrnehmung einen gefährlich verschwommenen Wunschort, an dem die guten “Westler*innen” den armen Refugees helfen. Kontinuierliche Rollenverteilungen, in denen Geflüchtete systematisch als passiv und hilflos dargestellt werden. Wir haben vor allem in Moria auf Lesbos einen “Voluntourismus” erlebt, in dem “Helfen” zur Freizeitgestaltung wird. Um es etwas drastischer zu formulieren: Oft hatten wir das Gefühl, dass hier der eigene Lebenslauf interessanter und aufregender gestaltet werden soll und die Solidarität hintenan steht und in ihrer politischen Form schlicht nicht vorhanden ist. Eine Art Erlebnisurlaub in dem mal in die wilde Welt da draußen reingeschnuppert werden kann. In der Sächsischen Zeitung klingt dies dann wie folgt: “Wer sich über die Feiertage langweilt oder einfach engagieren will, der möge sich beim Dresden-Balkan-Konvoi melden.”

Auf lange Sicht wird Charity aber keine der Strukturen verändern, die Fluchtgründe und Illegalisierungen schaffen. Stattdessen verbleibt das reine “Helfen” in den ungleichen Rollen der “Gebenden” und “Nehmenden”. Wir können an dieser Stelle auf die Einschätzung der Personen aus dem Umfeld der SocialKitchen (siehe zweiter Teil des Berichts) zurückgreifen, die genau das in den NGO und “Volunteer-Strukturen” kritisiert haben: Wenn es kein gemeinsamen Austausch und eine Form von kollektivem Verständnis gibt, die doch im Mindesten darin bestehen sollte, dass gemeinsam gegessen wird, was gekocht wurde, kann von Solidarität keine Rede sein.

“Volunteers” und die Selbstverwaltungsstrukturen

Auch, wenn wir viele grundlegende Dinge am “Voluntourismus” kritisieren, möchten wir auch auf Diskussionen mit Genoss*innen in Thessaloniki verweisen: Unserer Meinung nach kann Charity die politische Solidarität nicht fördern. Teilweise wird dies sogar behindern bzw. verunmöglicht. Dennoch dürfen wir nicht in einer reinen Abwehrhaltung gegenüber Helfenden und NGOs verbleiben. Der Wille zu “helfen” zeigt trotz allem, dass man grundsätzlich bereit ist, sich für andere einzusetzen. Es gibt durchaus gelebte Empathie und daran kann angeknüpft werden. Es ist mehr als verständlich, dass angesichts des staatlichen Unwillens, Menschen angemessen zu versorgen, zu behandeln und das Sterben zu beenden, der Bedarf besteht schnelle Hilfe bereitzustellen und zu handeln. Wenn es aber bei “reiner Hilfe” bleibt, kann der Kreislauf dieses Systems von Abschottung, Abschiebung und Ungleichheit nicht durchbrochen werden.

Konkret müssen wir unsere Strukturen möglichst offen gestalten. Es fehlt mitunter noch an Sichtbarkeit und Ansprechbarkeit für Freiwillige Helfer*innen. Das Aufzeigen, Vermitteln und Entwickeln von Alternativen gegenüber freiwilligen Helfer*innen fällt oft schwer und ist teilweise einer Form von “Szenearroganz” geschuldet. Außerdem übersteigen uns Situationen, in denen Menschen akut geholfen werden muss und in denen es um Leben oder Tod geht, sehr oft. Auf viele Rahmenbedingungen haben selbstorganisierte Strukturen wenig Einfluss – Sei es die Repression durch lokale Behörden (etwaige Campräumungen), die europäischen Grenz-, Migrations- und Fluchtpolitik (Wer darf wann und wohin kommen/flüchten? Wer darf sich wie bewegen und auf welche Art und Weise kommen Menschen? Wieviele Menschen kommen?) oder mediale Berichterstattung. Dies alles erzeugt eine Situation permanenter Spannung. Stress ist keine gute Diskussionsgrundlage. Die Möglichkeiten innerhalb dieses Rahmens zu vermitteln, warum gemeinsame, gleichberechtigte und hierachiearme Organisationsformen wichtig sind, ist sehr eingeschränkt. In Lesbos werden solche Ansätze trotz aller Widrigkeiten deutlich. Die Selbstverwaltungsstrukturen zeigen Geflüchteten und Helfenden, dass Moria nicht die einzige Anlaufstelle auf der Insel ist.

Wir werden sie im zweiten Teil thematisieren.


[1] Mit diesem Einsatz eröffnet Frontex die neue Operateraion “Poseidon Rapid Intervention” – auch auf Anfrage der griechischen Regierung nach Unterstützung zur “Sicherung der Außengrenzen”. Die neue Operation soll so vor allem die Effektivität von Überwachung, Registrierung und Identifizierung erhöhen. Die starke Ausweitung von Einsatzkräften und -techniken soll als “schneller Interventionsmechanismen” die Unabhängigkeit Frontex’ von nationalen Entscheidungen erhöhen (Quelle).

[2] Der Begriff “Volunteer” meint im Deutschen so viel wie “freiwillige*r Helfer*in”. Das “Volunteer-Welcoming-Center” ist in Moria der Koordinationsort für Schichtpläne und Treffpunkte der Freiwilligen.

[
3] Gemeint sind vor allem nordafrikanische Staaten Marokko, Tunesien, Algerien etc., den sog. Maghrebstaaten.

[
4] SIS II = Schengen Information System II, EURODAC = European Dactyloscopy, eine europaweite Datenbank zur Speicherung von Fingerabdrücken Flüchtender und Asylsuchender und VIS = Visa Information System. Dies sind die drei große Datenbanken und die wesentliche Stützen des Dublin-Verfahrens u.a. bzgl. Rückführung in die EU-Länder der Erstregistrierung: Hier findet ihr eine gute Übersicht.

[5]
“White-Savior-Syndrom” ist ein komplexes Thema, dass wir hier nur anreisen können. Es steht in einer langen, kolonialen Kontinuität Hilfsbedürftigkeit zu konstruieren, also Menschen als passiv und schwach wahrzunehmen. Das schafft eine eigene Überlegenheit. Es steht in Verbindung damit, wie bestimmte Menschen dargestellt werden, wie mit ihnen umgegangen wird, mit welcher Selbstständigkeit und Wissen sie wahrgenommen werden. Für den Kolonialismus war es zentral, dass Menschen die nicht aus dem “Westen” kamen in dieser Art zu hilfsbedürftigen Objekten gemacht wurden – Unterdrückung, Ausbeutung, etc.konnten so gerechtfertigt werden Diese Muster können wir auch heute noch beobachten. Verständlich erklärt die Broschüre “Mit kolonialen Grüßen…”

[
6] Die Aussage “Freedom of Movement – Leute ” bezieht sich sicherlich auf eine populäre Forderung der Geflüchteten-Bewegung und antirassistischer Gruppen. Von einer einheitlichen Identität a la “Die Freedom of movement -Leute” zu sprechen halten wir für absurd. Es ist vielmehr ein loses Netzwerk, das manchmal mehr ein andermal weniger stark vereint in der Öffentlichkeit in Erscheinung tritt. Wahrscheinlich handelt es sich hier um ein ähnliches Phänomen das wir auch aus Deutschland kennen. Dort heißt es ja oft “Seid ihr von DER Antifa?” “DIE Antifa”, mit einheitlichem Programm und einem einheitlichen politischen Standpunkt jenseits von Anti-Nazi-Arbeit gibt es jedoch (zum Glück) nicht.