Delegationreise Griechenland [Kritik und Selbstkritik Orfanotrofio]

Selbstkritik und Kritik am Orfanotrofio

Am 05. Januar haben wir eine Diskussionsveranstaltung im Orfanotrofio besucht. Dort haben sich verschiedene Projekte und Initiativen mit und für Geflüchtete vorgestellt. Es saßen Menschen aus Lesbos, Athen und natürlich Thessaloniki auf dem Podium, die jeweils einen kurzen Input zu der Situation vor Ort und dem aktuellen Stand ihrer Solidaritätsstrukturen gaben. Da wir über das Notara in Athen und die Situation in Lesbos noch berichten werden, sparen wir uns dies hier. Wir wollen den Fokus lieber auf die solidarische Kritik und die Selbstkritik zum Orfanotrofio legen. Nicht nur während der Diskussionveranstaltung, sondern auch bei vielen Einzelgesprächen, wurde neben der grundsätzlichen Solidarität auch immer wieder Kritik geäußert. Eine strikte Ablehnung des Versuchs sich gemeinsam mit Geflüchteten zu organisieren und sie zu unterstützen haben wir jedoch nicht gehört.


Es ist wichtig
, die Kritikpunkte hier festzuhalten, um keine Projektionsfläche a la “in Griechenland ist alles besser” zu erzeugen und um bestimmte Punkte evtl. auch in Diskussionen in Deutschland einfließen zu lassen. Die hohe Kritikfähigkeit, Diskussionsbereitschaft und das solidarische Verhalten haben wir als sehr positiv empfunden. Wir haben diesen Bericht grob in “Selbstkritik” und “Kritik” gegliedert. “Innen- und Außenperspektive” gibt es faktisch nicht, da fast alle Menschen, mit denen wir gesprochen haben in irgendeiner Weise in die Tätigkeiten des Orfanotrofio involviert sind. Die Trennschärfe wäre hierbei nicht wirklich gegeben. Wir haben daher eher zwischen dem was offiziell während der Diskussion gesagt wurde und dem was uns Einzelpersonen gesagt haben, unterschieden. Unsere Aufzeichnungen sind lediglich nur Fragmente und haben keinen Anspruch eine “allumfassende Sicht” darzustellen.

Selbstkritik

1) Einbeziehung der Geflüchteten ist noch nicht optimal

Orfan_1Oft fehlt es an Übersetzungen in häufige Sprachen wie Arabisch, Urdu oder Farsi. Daraus folgt, dass eines der größten Probleme die Sprachbarriere darstellt. Um gemeinsame Treffen zu organisieren, muss es also eine Übersetzung und ein entsprechendes Redeverhalten mit Übersetzungspausen geben. Es ist nach wie vor schwierig Übersetzer*innen zu finden, jedoch hat sich diese Situation verbessert und mittlerweile sind gemeinsame Treffen möglich. Das “integrieren der Geflüchteten in die anarchistischen/antiautoritären Strukturen, ist eine der wichtigsten Aufgaben, die gerade angegangen wird.”, so ein Diskussionsbeitrag an dem Abend. Die Vermittlung von bestimmten Regeln und Prinzipien braucht Zeit, Verständnis und Fingerspitzengefühl. Ähnlich wie im Notera (Besetzung in Athen) soll dafür die Wilkommensgruppe, die wir bereits in unserem dritten Bericht erwähnt hatten, ausgebaut werden. Sie soll mit griechischen “Aktivist*innen” und Geflüchteten besetzt und in der Lage sein, Neuankommende über die internen Regeln und das Selbstverständnis der Besetzung zu informieren (siehe Foto), um so das Konfliktpotential von vornherein zu minimieren.

2) Schichten und fehlende Verantwortung

Bei den ersten Versammlungen waren bis zu 200 Leute, die Unterstützung für die Besetzung zusagten. Viele sind in verschiedenen politischen Gruppen aktiv und müssen sich im Laufe der Zeit auch wieder anderen Bereichen widmen. Auch erschwerten die Feiertage die Schichtverteilung, da viele Menschen bei ihren Familien und damit nicht in Thessaloniki waren. Diese Situation hat sich jetzt jedoch wieder verbessert. Es bleibt trotzdem die Frage nach den Verantwortlichkeiten in Zukunft bestehen.

3) Der fehlende Rahmen für die Besetzung

Da die Besetzung relativ spontan von Statten ging, wurde auch dieses Problem angesprochen. Die Menschen im Orfanotrofio und deren Unterstützer*innen mussten feststellen, dass jede praktische Entscheidung, eine politische Tragweite besitzt.

Ein praktisches Beispiel: Wer kann in der Besetzung unterkommen? Im Notera, in Athen, dürfen z.B. nur Familien, Frauen mit Kindern und Minderjährige bleiben, da diese Gruppen den meisten Schutz brauchen. Diese Entscheidung sei verständlich, da die Situation in Athen eine ganz andere sei, aber gleichermaßen ist sie sehr ausschließend. So kann eine Entscheidung gegen die Aufnahme bestimmter Gruppen die Ausgrenzung noch mehr fördern und besitzt damit eine große politische Tragweite. Im Orfanotrofio besteht dieser Ausschluss nur für Drogendealer*innen  und -konsument*innen, Informant*innen der Cops und “Schmuggler*innen” (gemeint sind Menschenhändler), jedoch nicht für Männer* die individuell auf der Flucht sind. “Schmuggler*innen” werden abgelehnt, da “individuelle Lösungen für kollektive Probleme nicht unterstützt” werden. Will sich ein Mensch auf der Flucht mit einer*m “Schmuggler*in” zusammentun, wird dies nicht durch die Gruppe getragen. Es gibt dafür keine Hilfe in irgendeiner Form. Weitere Einschränkungen gibt es bisher jedoch nicht.

4) Selbstbild und “Erwartungen” an Geflüchtete

Auch dies wurde von einer Person selbstkritisch thematisiert. Es kann nicht erwartet werden, dass Geflüchtete hochgradig radikale und politisierte Individuen sind. Den eigenen Anspruch direkt zu projezieren ist völlig fehlgeleitet. Es sei viel wichtiger, erste soziale Beziehungen aufzubauen und sich gegenseitig zuzuhören, um gemeinsame Lösungen für individuelle Probleme zu finden.

Kritik

1) Die Grenzen der Selbstorganisierung

Diese Kritik haben wir mehr als einen Hinweis als eine Kritik am Orfanotrofio verstanden. Einige Genoss*innen waren bereits vor einigen Jahren in Kämpfe von Geflüchteten involviert. Ein großes Problem waren dort Clanstrukturen, tribale Organisierung, die Organisierung in Gangstrukturen, starke patriachale Strukturen und anderweitige Hierarchien. Wenn Menschen seit Jahren auf der Straße überleben müssen, haben sie sich oft Strukturen geschaffen bzw. sind Strukturen beigetreten die nicht unbedingt egalitär und progressiv sein müssen. Es entstehen Illegalisierungs- und Fluchtorganisierungen, die den kollektiven Idealen entgegenstehen können. Ein Genosse meinte, dass die “Grenzen der Selbstorganisierung” erreicht seien, “wenn mit den ‘Chefs’ gesprochen werden muss.” Ein Lösung hierfür konnte er nicht anbieten.

2) Identitäres Selbstverständnis

Mit plakativen Abgrenzungsansagen, wie sie viele Anarchist*innen auf den Versammlungen vor der Besetzung gemacht haben, kann nicht viel erreicht werden. Eine identitäre Politik sei deplaziert. Darunter zählen Aussagen wie “Wir wollen keine Bullen, keine Stadtverwaltung, keine Kirche etc.”. Das sei ersteinmal nicht verkehrt, aber gleichzeitig kann eine differenzierte Kommunikation notwendig sein: z.B. Gegenüber der Kirche: “Stellt keine Ansprüche auf das Gelände, haltet euch raus, aber bringt Essen vorbei. Oder Druck auf die lokale Stadtverwaltung ausüben, dass diese geeignete Häuser / Räume zur Verfügung stellt.

3) Druckpunkte

Es bleibt die ungeklärte Frage, wo solche Druckpunkte anzusetzen sind. Macht es mehr Sinn anwaltliche Arbeit finanziell zu unterstützen und mehr Anwält*innen zu schicken oder eher den Druck auf die Regierung aufzubauen? Sind dafür Demos oder eher Besetzungen geeeignet oder muss beides geschehen? Bisher wird weiter diskutiert, wo diese Druckpunkte am effektivsten genutzt werden können und es gibt keine gemeinsame Strategie.

4) Umfang der Besetzungen und emotionale Handlungsebene statt strategischen Überlegungen

Die “griechische Bewegung” sei im Moment nicht in der Lage mehr und mehr Besetzungen zu stemmen. Die Kontakte nach Italien zeigen, dass es dort eine Massenbewegung für die Besetzung von Wohnungen und Häusern mit, von und für Obdachlose und Geflüchtete gibt und diese dafür auch nötig sei. In Griechenland ist dies nicht der Fall und eine “Szene” hat dafür nicht die Kapazitäten. Der Drang aus bestimmten Empfindungen / emotionalen Druck heraus Handlungen zu begehen, sei nicht der richtige Weg und keine wirkliche Strategie, um den aktuellen Problemen zu begegnen. Das Orfanotrofio ist aus dieser Sicht aus eben einer solchen emotionalen Handlung entstanden. Nun muss viel Kraft in infrastrukturelle Aufgaben gesteckt werden und der politische Druck und die politische Entwicklung würden dadurch stark beeinflusst werden.

Wir möchten nochmal betonen, dass bei aller Kritik die Notwendigkeit eines konkreten Ortes, um mit Geflüchteten zusammenzukommen und sich zu organisieren immer hervorgehoben wurde. Lediglich die Frage nach dem Wie und Wann löste Diskussionen aus. Bisher ist nicht klar in welche Richtung sich das Orfanotrofio entwickelt. Grob können wir aus den geführten Gesprächen drei Hauptrichtungen ausmachen in die es gehen könnte: 1) Ein von griechischen Aktivist*innen verwalteter Ort in dem Geflüchtete auf dem Weg ihrer Flucht unterkommen können – wohl die unwahrscheinlichste Richtung 2) Ein gemeinsam organisierter Ort zum Wohnen und für Kultur 3) Ein Ort für den gemeinsamen politischen Kampf. Dazwischen mag es sicher noch viele “Mischformen” geben und in wie fern eine Aufteilung in dieser Art und Weise sinnvoll ist, sei hier ersteinmal dahingestellt.


Im Gefängnislager in Korinthos, kam es am 05. zu einem Aufstand der inhaftierten Geflüchteten. In den nächsten Tag sollen 30 Menschen aus Marokko abgeschoben werden. Es existieren Gerüchte, dass 60 weitere Marokkaner*innen in andere Abschiebeknäste in Athen verlegt werden. Wir sind morgen in Athen und werden das Gefängnislager in Korinthis mit einem Anwalt besuchen und mit einem inhaftierten Geflüchteten sprechen.