2. Bericht Chiapas: Vertriebene in Chalchihuitán

Ende Mai bis Anfang Juni war ich für zwei Wochen im chiapanekischen Landkreis Chalchihuitán. In diesem Landkreis wurden im Oktober letzten Jahres 5000 indigenen Menschen von paramilitärischen Gruppen gewaltsam vertrieben. Bis heute konnten viele nicht in ihre Häuser zurückkehren und leben in neun notdürftig errichteten Camps unter menschenunwürdigen und prekären Bedingungen. Die Regierung bleibt untätig und erkennt die Aggressionen und die Vertreibung nicht an, obwohl diese vor 45 Jahren den Konflikt provozierte und immer mehr schürte.

Bewaffnete Paramilitärische Gruppen, aus dem Nachbarbezirk Chenalhó, vertrieben im Oktober 2017 tausende indigene Menschen, um sich das umstrittene 365 Hektar große Grenzgebiet anzueignen. Dabei wurde am 18.10.17 der Kleinbauer – Samuel Pérez Luna – bei seiner Arbeit auf dem Feld erschossen. Aus Angst vor weiteren Angriffen und Aggressionen flüchteten die Bewohner_innen, aus den in der Nähe liegenden Dörfern, in die Berg und errichteten provisorisch neun Camps. Ende Oktober gab es erneute Übergriffe von Paramilitärs. Sie brannten Häuser ab, zerstörten die bewirtschafteten Felder, stahlen oder zerstörten Ernten und Vieh und verbreiteten Angst und Schrecken unter den Vertriebenen, indem sie täglich Warnschüsse abgaben. Bisher kamen 13 Menschen auf Grund der unwidrigen Zustände, die durch die Paramilitärs geschaffen wurden, ums Leben. Auf Grund dessen starben Kinder, Säuglinge und ältere Menschen an Unterkühlung, mangelnder Ernährung und fehlender medizinischer Versorgung. Durch installierte Straßenblockaden wurde Menschen der lebenswichtige Transport in Krankenhäuser verwehrt. Zudem wurde mir berichtet, dass es unter anderem zu einem Suizid kam, indem ein junger Mann Unkrautvernichtungsmittel trank, um der psychisch und physisch nicht mehr aushaltbaren Situation zu entkommen. Vier Wochen lang blockierten und isolierten bewaffnete Gruppen aus Chenalhó die einzige nahegelegene Zugangsstraße in die Berge. Dadurch wurden alle Fahrzeuge gezwungen einen Umweg von mehr als sieben Stunden einzuschlagen. Wodurch keine Krankenwägen und Hilfsgüter wie Medikamente und Lebensmittel, Kleidung und Hygieneartikel in die Camps gebracht werden konnten. Im Januar kehrten viele Menschen auf Druck des mexikanischen Militärs in ihre ursprünglichen Häuser zurück und leben nun in ständiger Bedrohung und Angst. Eine Rückkehr die vom mexikanischen Staat politisch inszeniert wurde, um der internationalen Aufmerksamkeit um diesen Konflikt und dem daraus folgenden Druck zu entkommen. Der mexikanische Staat versprach Sicherheit, Hilfsgüter und Entschädigung bei einer Rückkehr. Jedoch stehen die Vertriebenen jetzt einem Leben, dass durch Angst vor Paramilitärs geprägt ist, Feldern die sie nicht mehr bestellen können, einer Infrastruktur, die auf Grund von Blockaden nicht genutzt werden kann und einer miserablen Versorgung mit Lebensmitteln gegenüber.

Politisch provozierter Konflikt

Der Konflikt besteht bereits seit 45 Jahren und wurde seitdem nie gelöst. In der Vergangenheit kam es zu Diebstählen und vereinzelt zu Todesfällen, aber die gewaltigsten Eskalationen kamen erst im Oktober 2017 auf. Zwischen den beiden Landkreisen Chalchihuitán und Chenalhó fließt ein Fluss, welcher ursprünglich die traditionelle, von beiden Seiten vereinbarte und akzeptierte Grenze, war. Die Bäuer_innen, welche auf den unterschiedlichen Seiten des Flusses ihre Parzellen bestellten, hatten ein gutes Verhältnis zueinander und halfen sich gegenseitig, so der Pfarrer Sebastián López von der Pfarrerei San Pablo. Bis es 1935 dazu kam, dass das Landratsamt das 365 Hektar große Grenzgebiet Chenalhó zusprach. Diese Entscheidung wurde jedoch nicht durchgesetzt. Es galt weiterhin die traditionelle Flussgrenze. 1975 schrieb jedoch die zuständige Behörde das selbe Territorium Chalchihuitán zu. Diese Bestimmung wurde fünf Jahre später durchgesetzt und es kam zu einer Neuvermessung und geraden Grenzziehung. Dies führte zu Unklarheiten und Verwirrungen über Landtitel. Denn nun besaßen beide Landkreise rechtsgültige Dokumente, die sie als Besitzer_innen der selben Ländereien auszeichnete. 2005 wurde dann eine Anfrage auf Klärung bei der zuständigen Behörde gestellt, welche bis 2017 unbeantwortet blieb.

Paramilitarismus

Nach der Erhebung der „Ejército Zapatista de Liberación Nacional“ (EZLN) 1994 war es Teil der staatlichen Strategie paramilitärische Gruppen auszubilden und zu mobilisieren, um gegen die zapatistische Armee und deren Sympathisant_innen vorzugehen und diese niederzuschlagen. Belegt wird die Versorgung, der Aufbau und die Unterstützung des mexikanischen Militärs gegenüber den paramilitärischen Gruppen mit den Regierungsdokumenten „Plan de Campaña Chiapas 94“. Die meisten Gruppen wurden seitdem nie entwaffnet und demobilisiert. Eher im Gegenteil. Sie werden immer noch von der staatlichen Politik (auch von Konzernen) beauftragt oder geduldet, um mit Gewalt politische und wirtschaftliche Interessen durchzusetzen. Auch in diesem Fall handeln die Paramilitärs im Auftrag des Landratsamts von Chenalhó. Im Dezember 2017 wurde ein Dokument von verschiedenen Autoritäten aus Chenalhó, unter anderem auch von Rosa Pérez, amtierenden Präsidentin des Landkreises, veröffentlicht. In diesem wurde amtlich eine Drohung mit folgenden drastischen Maßnahmen ausgesprochen, falls das anstehende Gerichtsurteil und damit die Zuweisung des Konfliktgebietes zugunsten Chalchihuitáns ausfallen würde. Die einzelnen Personen der beteiligten paramilitärischen Gruppen sind bisher nicht bekannt, da es keine offizielle Strafverfolgung der mexikanischen Regierung gibt. Die Betroffene Maria* berichtete mir vor Ort, dass die Polizei selbst ihre Angst vor den Paramilitärs geäußert hätte. Laut dem Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de las Casas (FrayBa) sind die bewaffneten Gruppierungen jedoch sicher aus Chenalhó. Bis heute gibt es immer noch fünft bewaffnete Gruppen in Chenalhó, welche aus der Zeit der Aufstandsbekämpfung gegen die Zapatistas hervorgegangen sind. Diese können bei Bedarf von der Regierung reaktiviert und mobilisiert werden, so das Menschenrechtszentrum (FrayBa). Vor Ort wurde von erneuter Mobilisierung gesprochen, welche durch den Konflikt zwischen den zwei Partein PRI und PVEM hervorgerufen wurde. Ein Vertriebener äußerte uns gegenüber, dass es gegenwärtig zu Rekrutierungen von Jugendlichen komme. Es wird vermutet, dass die selben Paramilitärs, die an der Vertreibung 2017 beteiligt waren, ebenfalls für das „Massaker von Acteal“ 1997, verantwortlich waren. Viele der Vertriebenen äußerten uns gegenüber des öfteren ihre Angst vor einem wiederholten Massaker. Über das Massaker und die heutige Situation in Acteal berichtete ich bereits in meinem vorherigen Artikel.

Untätigkeit der Regierung

Die Landkreise Chenalhó und Chalchihuitán sind, wie fast ganz Chiapas, traditionelles PRI-Gebiet. PRI (Partei der institutionalisierten Revolution) hat das politische Schicksal Mexikos seit der Revolution bestimmt. Die Programmatik der PRI ist durch eine neoliberale und rechtsgerichtete Politik bestimmt, zudem gibt es nachgewiesene Verbindungen zu Drogenkartellen. Die PVEM, ist die „Grüne Partei“ Mexikos, diese ist allerdings nicht mit der deutschen Partei „Bündins 90/Die Grünen“ zu vergleichen. Die PVEM ist eine Abspaltungspartei der PRI. Diese beiden Partein lassen sich programmatisch kaum voneinander unterscheiden. Die PVEM macht der PRI seit einigen Jahren in Chiapas und anderswo Konkurrenz. Vor 2015 entschieden die indigenen Gemeinden im chiapanekischen Hochland im Konsensverfahren, wer die_der Kanidat_in des Landkreises wird. Dies geschah jedoch immer unter dem Label der PRI. Seit einigen Jahren ist die PVEM immer mehr daran interessiert, geopolitischen Einfluss zu nehmen. Was 2015, bei den letzten Wahlen, dazu führte, dass eine eigene Kandidatin der PVEM in Chenlhó, Rosa Pérez, aufgestellt wurde. Dies wurde von Seiten der Bevölkerung in Chenalhó als Missachtung der traditionellen indigenen „Sitten und Bräuche“ gewertet. Rosa Pérez gewann den Wahlkampf, wobei auch hier das Menschenrechtszentrum (FrayBa) und die Opposition von Wahlbetrug sprachen. Daraufhin folgten heftige Proteste und Blockaden gegen den Amtsantritt von Rosa Pérez. Letztendlich kam es jedoch zum Amtantritt, der umstrittenen Kandidatin Rosa Pérez, da diese vor das zuständige Wahlgericht zog. Vor diesem argumentierte sie, dass sie auf Grund von geschlechtsspezifischer Gewalt angegriffen worden wäre. Das Gericht urteilte in ihrem Interesse und sie nahm offiziell ihren Posten als Präsidentin des Landkreises Chenalhó an. Die chiapanekische Regierung erkennt bis heute den bestehenden Konflikt zwischen den beiden Gemeinden nicht an und bleibt untätig. Am 13. Dezember 2017 wurde ein Gerichtsurteil verlesen, indem das ursprüngliche Urteil, welches Chalchihuitán das Gebiet zu sprach, annulliert wurde. Chenalhó interpretierte das Urteil als ein Zuspruch des Gebietes. Im Januar diesen Jahres rügte der „interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte“ die mexikanische Regierung und forderte eine Lösung des Konflikts. Die mexikanische Regierung beauftragte die Chiapanekische, welche einen Repräsentanten in den Landkreis entsandte. Es kam zu einem Treffen mit dem Bürgermeister aus Chalchihuitán, jedoch ohne Beteiligung der betroffenen Personen. Auf diesem Treffen wurde ein Konfliktende medial inszeniert und die Entsendung von Hilfsgütern, Häuserbau und die Bestrafung und Entwaffnung der Paramilitärs versprochen. Damit war für die Regierung der Konflikt gelöst und existiert seit dem nicht mehr. Doch die Versprechungen wurden nie eingehalten. Von der Regierung wurden anfangs kaum und seit Monaten gar keine Hilfsgüter mehr in die Camps geschickt. Der Vertriebene Paul* berichtete uns, dass die momentan amtierende Regierung kein Interesse habe, den Konflikt zu lösen, da ein baldiger Amtswechsel anstehe. Dass die Aggressionen kurz vor den Wahlen auf dem Höhepunkt angelangt sind, ist kein Zufall. Ebenfalls reicht es nicht aus, die Vertreibung in Chalchihuitán als Landkonflikt zwischen den zwei Landkreisen abzutun. Es ist keine Seltenheit, dass die konventionelle Presse und die Regierungsparteien von (Land-)Konflikten zwischen indigenen Gruppen sprechen. Ziel ist es, politische und wirtschaftliche Interessen zu verschleiern oder gar zu ignorieren, welche hinter den Konflikten stehen. Die Vertreibung in Chalchihuitán ist nur ein weiteres aktuelles Beispiel für gewaltsame Vertreibungen, die im Zusammenhang mit der Lokalpolitik stehen. In einem weiterem Nachbarbezirk Chenalhós – Aldama – wurden im März diesen Jahres 200 Menschen vertrieben. Wie in Chalchihuitán, wurden sie von bewaffneten Gruppen angegriffen und bis heute leben 90 Menschen in notdürftig errichteten Camps. Laut dem Menschenrechtszentrum (FrayBa) gibt es einen Zusammenhang zwischen den bewaffneten Gruppen, welche die beiden Bezirke angriffen und somit auch eine Verbindung zum Landratsamt Chenalhós.

Aktuelle Situation

Während den zwei Wochen, die ich vor Ort war, waren wir in zwei der neun errichteten Camps, um mit den Betroffenen zu sprechen und die Situation zu dokumentieren. 1200 Menschen leben nun seit mehr als sieben Monaten in den Camps und konnten noch immer nicht in ihre Häuser zurückkehren. Weitere Personen sind trotz ständiger Gefahr und Bedrohung im Januar in ihre ursprünglichen Gebiete zurückgekehrt, aufgrund der prekären, lebensbedrohlichen Bedingungen und der steigenden Druckausübung von Militär und Polizei. Viele dieser „Zwangszurückgekehrten“ befinden sich jedoch nicht in ihren Häusern, sondern verweilen in Häusern von Verwandten und Freund_innen oder müssen zur Miete wohnen, weil ihre eigenen Häuser zu unsicher sind. Die Betroffenen in den Camps haben sich notdürftig Hütten aus Holz gebaut und eine Gemeinschaftsküche unter einer aufgespannten Plane errichtet. Dies schützt sie jedoch keineswegs vor Unwetter, Kälte und Regen, gerade jetzt in den Regenzeit muss täglich mit Überschwemmungen gerechnet werden. Die Vertriebenen sind zumeist „Campesinos“ (Kleinbäuer_innen), welche Selbstversorger_innen sind. Die Parzellen der Campesinos liegen zum größten Teil im Konfliktgebiet und können deshalb nicht mehr bestellen werden. Einige Männer sind bereits in andere Bundesländer ausgewandert, um Arbeit zu suchen. Paul* erzählte mir, dass Menschen aus Chenalhó sich ihre Parzellen angeeignet haben und nun bewirtschaften und dabei den Schutz von bewaffneten Personen genießen. Monatlich kommen Hilfsgüter von Caritas in den Camps an, diese sind jedoch nie ausreichend. Zu dem werden alle zwei Wochen Medikamente in die Camps geliefert. Die Repräsentanten beklagten jedoch, dass die Medikamente, ebenso wie die Lebensmittel, nicht ausreichen würden. Immer wieder erkranken Menschen an Gastritis, Erkältungen, Grippe, Rheuma und Durchfall. Unter „normalen“ Bedingungen sind dies keine lebensbedrohlichen Krankheiten, unter diesen Umständen jedoch schon. Außerdem gibt es nur eingeschränkten Zugang zu Wasser und kein Strom. Ein weiterer geschürter Konflikte, hat sich zwischen den „Zurückgekehreten“ und im „Camp gebliebenen“ aufgetan. Denn zur Zeit werden lediglich die Vertriebenen in den Camps mit Hilfsgütern beliefert. Paul berichtete uns von einer Ausnahme-Lieferung in den vergangenen Woche, die von der staatlichen Katastrophenhilfe „protección civil“ kam. Diese beinhaltete verdorbene Lebensmittel, was die Vertriebenen erst bemerkten, nachdem das gesamte Camp erkrankte. Die Betroffenen berichteten uns von andauernden Schüssen, sowohl tagsüber, als auch in der Nacht. „Die ständige Angst und die schlaflosen Nächte sind unbeschreiblich, wir trauen uns nicht mehr zu kochen, da die Gegner den Rauch sehen könnten.“, berichtete die Vertriebene Laura*. Die Menschen sind von den Ereignissen schwer traumatisiert und ihre Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung wächst.

Doch sie kämpfen weiter und sind davon überzeugt etwas gegen die Situation zu tun und verlangen Entschädigung. Deshalb gründeten sie am 8. März 2018 das „Comité Chalchihuitle“, indem sich alle betroffenen Personen organisieren, auch die bereits „Zurückgekehrten“, um ihre Interessen als Vertriebene stark zu machen. Die Organisation fordert zunächst die Anerkennung als Vertriebene durch die verschiedenen Instanzen des mexikanischen Staates. Außerdem fordern sie die Rückgabe ihres Landes und Entschädigungen. Darüber hinaus verlangen sie die Entwaffnung und Demobilisierung der bewaffneten Gruppen, sowie die Verurteilung der Verantwortlichen der Vertreibungen. Ihr wichtigstes Ziel ist folglich die Befriedung des Konflikts. Diese Organisation und das solidarische Zusammenkommen fand auf Grund der Vertreibung statt und hat deshalb keinen direkten politischen Hintergrund. Die Vertriebenen lehnen des weiteren keine staatliche Unterstützung ab, ganz im Gegenteil, sie rufen gemeinschaftlich zur Wahl auf. Wo hingegen Zapatist_innen und andere rebellische Organisationen jegliche Unterstützung der Regierung ablehnen.

* Der Name wurde aus Sicherheitsgründen geändert.